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"Half of the people are stoned and the other half are waiting for the next election." ("Die Hälfte der Leute ist bekifft und die andere Hälfte wartet auf die nächste Wahl."), heißt es im 1971 uraufgeführten Theaterstück "The Mass" von Leonard Bernstein, zu dem 45 Schülerinnen und Schüler der Q2 am Dienstag, 08. März 2016, eine Werk-Einführung in der Aula des AMG erlebten.

Zuvor hatten sie sich in ihren Deutsch-Grundkursen kreativ schreibend und dichtend mit dem Libretto-Text, der ein Konglomerat aus den Texten der römisch-katholischen Liturgie sowie ergänzenden Textpassagen Leonard Bernsteins und des Broadway-Komponisten Stephen Schwartz darstellt, auseinandergesetzt und eigene Textvariationen, Parallel- oder Gegentexte zu einzelnen Libretto-Zitaten verfasst. Dieses Schülerprojekt für die Sekundarstufe 2, in dessen Rahmen sich Oberstufenschüler interdisziplinär und künstlerisch gestaltend dem historischen, philosophischen und religiösen Hintergrund des vielschichtigen Werks nähern konnten, hat der Bach-Verein Köln anlässlich der erstmalig vollständigen halbszenischen Aufführung dieses Mammut-Werks in englischer Originalsprache in der Philharmonie Köln am 10. Mai 2016 mit umfangreichem Material- und Schulbesuch-Angebot organisiert und dokumentiert (siehe: http://www.bach-verein.de/schuelerprojekte/geschichte/schuelerprojekt-2016/index.html ).

Thematisch wie musikalisch stellt dieses kontroverse Theaterstück für Sänger, Instrumentalisten und Tänzer des großen amerikanischen Komponisten Leonard Bernstein eine deutliche Provokation dar. In der halbszenischen Bühnenhandlung wird eine katholische Messe gefeiert, deren Ritus massiv gestört wird. Die vom Leben, von ihrer sozialen Situation, von politisch-gesellschaftlichen Zuständen enttäuschte Gemeinde, die "Street People", lebt ihren Frust aus, konfrontiert den zunehmend unsicher werdenden Priester offen mit ihren tiefen Glaubenszweifeln und führt so die Messfeier ins Chaos, treibt den Zelebranten in den Wahnsinn, der selbst schließlich die Messrituale verhöhnt. In der Musik greift ein virtuoser Stilmix zwischen Jazz und Blues, Musical-Elementen und Kirchenmusik, Expressivität und zeremonieller Strenge, Tonalität und Atonalität die emotionale Aufgewühltheit und Verzweiflung auf und fügt dem Text auch eine neue Deutungsebene hinzu: Denn insbesondere ein ursprünglich so demütiger Gestus wie der des sanften Gebetes "Agnus Dei, qui tollis peccata mundi, miserere nobis. Dona nobis pacem." ("Lamm Gottes, du nimmst hinweg die Sünde der Welt, erbarme dich unser. Gib uns Frieden.") wird durch Bernsteins Vertonung in rockig-markigen Rhythmen in eine provokante Forderung im Gestus einer Demonstrations-Parole umgedeutet. Diese wurde bei der Uraufführung 1971 eindeutig als Kommentar zum grausamen Vietnam-Krieg, jene Aussagen aus den Zusatztexten wie etwa "die andere Hälfte wartet auf die nächste Wahl" als subversive Kritik an der Regierung der 1960er Jahre verstanden und machten das Werk politisch höchst brisant und seinen Schöpfer Leonard Bernstein zum Beobachtungsobjekt des FBI.

Und heute(?) - scheint das Werk in Zeiten des Syrien-Krieges, der aus ihm entstandenen humanitären Katastrophe, der zunehmend in Fragen des Glaubens, der Politik und der Lebensentwürfe pluralistischer werdenden Gesellschaft und der wieder radikaler agierenden Protestbewegungen aktueller denn je. Über diesen Aktualitätsbezug konnten sich die 45 Schülerinnen und Schüler der Deutsch-Grundkurse der Q2 im Rahmen der Werk-Einführung am 8. März beim Besuch des Regisseurs, Martin Füg, und des Dirigenten, Thomas Neuhoff, in einem 90-minütigen Gespräch austauschen. Dabei kamen rund um die Themenschwerpunkte "Lebens- und Glaubenskrise, Liebe, Einsamkeit" viele weitere tiefgründig-existenzielle Fragen zur Sprache, die die Jugendlichen bereits in ihren Kreativ-Texten literarisch-künstlerisch verarbeitet hatten und nun noch einmal mit ihren persönlichen Alltags-Erfahrungen verknüpfen konnten: Was könnte moderner Glaube sein? Gibt es etwas, woran man glauben kann? Was erwarte ich von meiner Zukunft? Was sind für mich Rituale? Was bedeutet für mich Glück? Was hält mich am Leben? So individuell und facettenreich die Antworten insgesamt auch ausfielen, kristallisierte sich dennoch speziell auf letztere beide Fragen ein gemeinsames Ziel heraus, das den Jugendlichen jeden Tag beim Schwimmen im Alltagsmeer eine Richtung und einen Lebensanker gibt: der Kontakt und die geschenkte Zeit mit lieben Menschen, beispielsweise das ritualisierte Zusammensein mit Familie und Freunden zu festen Tageszeiten.

Um die Inszenierung des Werks so nah wie möglich auch mit der aktuellen Lebensrealität der am Schülerprojekt teilnehmenden Schüler zu verknüpfen, plant das Schülerprojekt-Team des Bach-Vereins die Erstellung einer Collage von Schülerzitaten zum Thema Glauben und Religion, die bei den verschiedenen Schulbesuchen wie etwa in unserem AMG gesammelt wurden und während der Aufführung am 10. Mai 2016 in der Kölner Philharmonie auf einer großen Leinwand projiziert werden.

Im Namen aller 45 Schülerinnen und Schüler der Deutsch-Grundkurse bedanken wir uns sehr herzlich für die Zeit, die Herr Füg, Herr Neuhoff sowie sechs mitgereiste Choristen des Bach-Vereins Köln und des Philharmonischen Chors Bonn uns bei ihrem Besuch am 8. März geschenkt haben, um uns einen Einblick in Bernsteins "The Mass" zu vermitteln und uns auf den gemeinsamen Besuch der Kölner Aufführung im Mai in der Philharmonie einzustimmen, indem sie uns im Verlaufe der Veranstaltung auch zum aktiven Mit-Musizieren dreier Werkausschnitte aus dem "Gloria“, dem „Agnus Dei“ und dem versöhnlich schließenden „Lauda laude“ animierten.

Wir freuen uns sehr, dass wir für dieses musikalisch-kulturelle Groß-Event mit über 300 mitwirkenden Künstlern in der ausverkauften Philharmonie einige der begehrten Karten erhalten konnten und dass wir vielleicht mit unseren Gedanken zu den grundlegenden Themen des Werks einen Teil zur Kölner Inszenierung mit beitragen konnten! Vielen Dank!

 

Die Hälfte der Leute ist bekifft,

Und die andere Hälfte wartet auf die nächste Wahl.

Die eine Hälfte der Leute ist abgesoffen,

Und die andere schwimmt in die falsche Richtung.

Sie nennen es ein großartiges Leben,

Und, Baby, wo bleibst du,

Du und deinesgleichen?

- du und deine Jugend und deine Gedanken?

Nirgends, nirgends, nirgends.

Und ich weiß nicht einmal, ob ich schwimme.

(Textvariation einer Q2-Schülerin zum Libretto-Text "Die Hälfte der Leute")