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Konzentrierte Stille in der Aula. Über 100 Kinderaugen schauen erwartungsvoll auf eine kleine hell erleuchtete weiße Leinwand. Dort erscheint das schwarze Schatten-Profil eines zarten Kinderkopfes mit großen Kulleraugen. Mal wirken sie traurig, wenn sich die Blickrichtung auf einen drohend erhobenen Zeigefinger senkt; ein anderes Mal scheinen sie furchtsam aufgerissen, als gruselige Monsterwesen vor ihnen auftauchen, und im nächsten Moment blicken sie sehnsüchtig einigen Seemöwen nach, die im warmen Abendrot der in rötliches Licht getauchten Leinwand langsam verschwinden. »Wenn man bloß mit den Möwen über das Wasser ziehen könnte, raus aus der Enge!«, liest eine Stimme über Mikrofon.

Sie gehört dem Essener Autor und Pädagogen Gerd Haehnel, der am Freitag, 10. Juni 2016, die Klassen 5 und 6 mit ihren Klassenlehrern in der Aula des AMG besuchte - im Gepäck sein Kofferschattentheater und seinen Mitmach-Roman "Viktor im Schattenland. Ein Leseabenteuer gegen Lernstress", den eine der 6. Klassen im Deutschunterricht gelesen hatte. 

In zwei kombinierten Lesungen mit farbigem Schattenspiel zunächst für die 6. und später die 5. Klassen nahm er seine Zuhörer bzw. Zuschauer in die zu Anfang sehr bedrückende Roman-Welt des zwölfjährigen Viktor mit, dessen alltägliche Erfahrungen zumindest teilweise manchen Kindern leider nur zu gut bekannt sein dürften: lange Schultage mit wenigen Erholungsmöglichkeiten, Lerndruck und schwache Schulleistungen, die seine Versetzung gefährden, besorgte, aber zugleich hilflos nörgelnde Eltern, gestresste Lehrer und mobbende Mitschüler eines selbsternannten Freundeskreises. Sein Alltag ängstigt Viktor zutiefst, er sieht sich auf der Schattenseite des Lebens und entwickelt eine immer stärker werdende Panik vor echten Schatten. Diese scheinen ihn regelrecht in ein düsteres Schattenreich hinabzuziehen, wo sich Viktor von unheimlichen Schattenwesen aus den antiken Sagen verfolgt fühlt, die er aus den gruseligen Hörbüchern seines Vaters kennt. Und so schließt sich ein Teufelskreis der negativen Emotionen und des Versagens.
Doch wo Schatten sind, ist auch Licht: Denn zum Glück gibt es Viktors Opa, bei dem Viktor seine Osterferien verbringen darf. Dieser vermittelt ihm pfiffige Lerntipps und führt ihn ein in die beeindruckende Kunst und historische Kultur des phantastischen Figuren-Farbschattenspiels. Durch das Entdecken dieses neuen, besonderen Interessensgebietes gewinnt Viktor wieder an Leistungsmotivation, Selbstvertrauen und findet so auch neue Freunde, die ihn dabei unterstützen, sich von seinen Ängsten zu befreien, und die sein ungewöhnliches Hobby mit ihm teilen. Doch ob diese positive Entwicklung für Viktor ausreicht, um über seinen eigenen Schatten zu springen, der erdrückenden Enge in Schule und Elternhaus zu entfliehen und seine Versetzung noch zu schaffen?

Dies wollte der Autor natürlich nicht verraten! Stattdessen lud er sein Publikum ein, im Sinne des Mitmach-Romans einige Tricks des Schattenspiels, die Viktor von seinem Opa lernt, mit einfachen Mitteln wie Handys und Farbfolien spontan selbst auszuprobieren. So erfuhren die Kinder, wie man den Eindruck von dreidimensionalen Schatten erzeugt und wie mehrfarbige Schattenbilder entstehen können. Am Ende der Lesungen stellte sich der Autor in einer kurzen Gesprächsrunde jeweils den Fragen der neugierig gewordenen Unterstufenklassen. Dabei ermunterte er sie zudem, selbst einmal zuhause oder in der Schule eigene Geschichten mit dem Schattentheater kreativ zu erzählen, indem er abschließend noch ein Video eines Menschen-Schattentheaters zu einer Roman-Szene präsentierte, das er mit einer 5. Klasse seines eigenen Gymnasiums gestaltet hatte.
Begeistert wünschten sich die Kinder in beiden Jahrgängen jeweils noch eine Zugabe - zum Beispiel das Vorlesen einer weiteren spannenden Roman-Szene - und bedankten sich beim Autor, der ihren Wünschen gerne nachkam, mit einem großen Applaus.